Einblick: 4 Schritte zur Digitalisierung
Kulturwandel: Königsdisziplin der Transformation?
Der Begriff »Agilität« ist seit Jahren ein inflationär genutztes Buzzword in den Medien. Alles muss heute agil sein. In der Flut der agilen Lobeshymnen geht allerdings oft der eigentliche Grund dafür unter. Warum entscheiden sich Unternehmen, auf Agil umzustellen? Darüber spreche ich heute mit Patrick Diemer, Vorsitzender der Geschäftsführung von AirPlus International.
Patrick, wenn jemand zur Dir kommt und Dich fragt, »wie kann mein Unternehmen agil werden? « – was antwortest Du da?
Es gibt aus meiner Sicht zwei Ebenen, auf denen Unternehmen über Agilität nachdenken sollten. Eine allgemein gültige Ebene, die auf alle zutrifft und eine spezifische Ebene, die sich jede Organisation selbst ableiten muss – die eigenen Ressourcen, Möglichkeiten, Bedürfnisse und Ziele einbeziehend. Die allgemeine Ebene zielt auf das Menschenbild, das Selbstverständnis ab, das hinter Agilität steht: Hierarchiefreiheit, Selbstbestimmung, hohe Eigenverantwortung der Mitarbeiter. Agilität ist damit erst einmal nichts anderes, als gegen den Strom zu schwimmen. Es gibt nämlich viele Beispiele, bei denen wir uns als Gesellschaft alles andere als agil verhalten.
Die da wären?
Beispielsweise meine Fahrt ins Büro. Ich fahre 25 Kilometer ins Büro – und auf diesen 25 Kilometern wechselt 28 Mal die erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Ich habe das tatsächlich gezählt, ohne Baustelle. Jetzt steht in der Straßenverkehrsordnung (StVO), dass Verkehrsteilnehmer adäquat und sicher fahren sollten. Allerdings besteht diese Verantwortung nur auf dem Papier. Eigentlich diktiert der Staat mir seine Regeln.
Dieses Beispiel können wir nun auf Unternehmen übertragen. Wir erfinden Regeln. Haben wir ein Compliance-Problem, erfinden wir eine Regel. Wollen wir Prozesse optimieren, erfinden wir eine Regel. Ich habe einmal unseren Prozessmanager zu unseren Prozessen gefragt: Wir haben 59 Kernprozesse, 500 Prozesse, davon 1400 Kontrollen und 10000 Maßnahmen, die hinter diesen Kontrollen liegen, um Fehler zu vermeiden. Das ist in anderen Abteilungen genau dasselbe – und in den meisten Unternehmen sowieso. Auch hier haben die Mitarbeiter eine Verantwortung, aber auch hier werfen die Unternehmen sie mit Regeln zu. Deshalb, sollten wir gegen den Strom schwimmen.
Wie sieht es mit der wirtschaftlichen Entwicklung aus?
Das ist der zweite wichtige Punkt. Es gibt wenige innovative Unternehmen, die als Pioniere voranschreiten. Dahinter kommen die »Early Adopters«, die sich schnelle an die Neuheiten anpassen. Dann kommen die »Fast Followers« und schließlich die »Slow Followers«. Die meisten Unternehmen befinden sich bei den letzten beiden Beschreibungen. Das bedeutet für sie: Wenn diese Unternehmen mit ihren bisherigen Entwicklungszyklen von ein paar Produktreleases im Jahr weitermachen, während die schnelleren Unternehmen ein paar Produkte pro Monat entwickeln, werden sie früher oder später in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Unternehmen müssen sich als zwangsweise an die schnelleren Entwicklungen anpassen. Und damit meine ich vor allem Produkt und IT. Den Vertrieb muss man nicht unbedingt agilisieren, der kann auch weiter hierarchisch arbeiten. Aber bei Produkt und IT haben Unternehmen eigentlich keine Wahl mehr.
Okay, das war die erste, allgemeine Ebene. Und die spezifische?
Die spezifische Ebene betrifft, wie gesagt, jedes Unternehmen für sich. Beispielsweise kommt es vor, dass Unternehmen ein neues Geschäftsmodell entwickelt haben. Dann stellen sie fest, dass dieses Modell mit der derzeitigen IT nicht umsetzbar ist, weil diese für die neuen Anforderungen unbrauchbar ist. Oder Unternehmen, die manchmal Jahre für Innovationen benötigen und sehr lange Produktentwicklungszyklen haben. So lange auf einem Produkt zu sitzen, ist natürlich nicht wettbewerbsfähig, da müssen Verantwortliche etwas gegen tun, um schneller zu werden. Denn oftmals geht mit den genannten Beispielen eben auch eine schwächere Umsatzrentabilität einher.
Warum wollt ihr bei AirPlus agiler werden?
Vom agilen Zusammenarbeiten versprechen wir uns schnellere Time-to-Market, höhere Kundenorientierung, aber auch Kosteneinsparung und flachere Hierarchien, also weniger beispielsweise Führungskräfte.
Also wollt ihr auf der einen Seite effizienter und auf der anderen Seite innovativer werden?
Ja.
Wie ist das im Führungsumfeld aufgestoßen, dieser neue Ansatz. Wie hast du ihn in der Belegschaft verankert?
Das habe ich mir deutlich leichter vorgestellt. Ich habe am Anfang gedacht, das funktioniert wie bei den anderen Dingen auch: Ich werfe mal ein paar Schneebälle bis daraus irgendwann eine Lawine entsteht, die von selbst läuft. Allerdings werfe ich immer noch Schneebälle, eigentlich jeden Tag. Und das ist schon weniger selbstlaufend, als gedacht. Da war ich vielleicht naiv.
Die intellektuelle Offenheit für dieses Thema ist zwar unglaublich groß. Wenn ich durch die Führungsmannschaft gehe und mir auch die Teams an der Basis anschaue, ist das Feedback sehr positiv. Die Belegschaft steht mental voll hinter dem Wandel. Wir haben auch sehr viel in die Kommunikation investiert und immer wieder die Gründe vermittelt, warum wir auf agil umstellen.
Im Kopf sind die Leute also dabei – und in der Praxis?
Tja, bei der praktischen Umsetzung sind wir noch lange nicht da, wo wir sein wollen. Wir hängen uns immer wieder an Dingen auf, an die wir zu klassisch herangehen. Das habe ich unterschätzt. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, habe ich mir überlegt: Welche Entscheidungen treffe ich eigentlich und kann ich die an jemanden delegieren? An einen Mitarbeiter, keine Führungskraft. Die häufigsten Entscheidungen waren Preisentscheidungen für Kundenangebote. Hier haben wir ein sehr hierarchisches Modell, bei denen mehrere Instanzen darüber entscheiden, welche Geldbeträge freigegeben werden. Ich darf beispielsweise höhere Geldbeträge freigeben, als der Kundenbetreuer vor Ort. Der muss immer erst die Genehmigung von mir oder anderen sechs Vorgesetzten einholen. Das ist ein bürokratischer Prozess, der eben seine Zeit dauert.
In einem Meeting mit dem Controlling haben wir festgestellt: Es gibt ungefähr 1.200 Genehmigungsanträge im Jahr, davon gehen 200 über meinen Schreibtisch. Also haben wir uns ein Modell überlegt, in dem wir jeden dieser Fälle an Vertriebsmitarbeiter delegieren. Bis heute hatte ich nicht eine einzige Genehmigung zu erteilen, da die Mitarbeiter jetzt in Eigenverantwortung darüber entscheiden.
Nur weil ich das »mit meinen Schulterklappen« entschieden habe und andere Abteilungen overruled habe, konnte ich dieses agile Modell einführen.
Patrick Diemer, Vorsitzender der Geschäftsführung von AirPlus International
Wie kam das bei den Führungskollegen an?
Am Anfang waren alle dagegen. Am meisten der Vertrieb. Aber auch Marketing, Finance und vor allem Risikomanagement, einfach alle. Ich hatte interessante Meetings mit Kollegen, die gedacht haben, wir verscherbeln hier die Firma. Die wollten das unbedingt verhindern. Also: hätte ich das neue Modell erst einmal dem Kernteam vorgestellt, dann wäre das ganz klar gescheitert. Die Organisation hätte das erstickt. Nur weil ich das »mit meinen Schulterklappen« entschieden habe und andere Abteilungen overruled habe, konnte ich dieses agile Modell einführen. Also: in diesem Fall sind wir praktisch nicht weit von der Theorie entfernt.
Und dennoch kommen immer wieder Führungskräfte zu mir, die der Meinung sind, ihre Mitarbeiter sollten sie immer noch einmal auf die Verträge draufschauen lassen, bevor sie sie versenden. Das sind doch alles erwachsene Menschen und keine Kinder. Die können Entscheidungen doch selbst treffen. Und wenn der Vertriebler einen Vertrag schon acht Mal rausgeschickt hat, dann wird er beim neunten Mal doch auch keinen Rat mehr brauchen. Das sind Ängste der Führungskollegen. Vielleicht vor Kontrollverlust? Jedenfalls, versuchen wir, diese Ängste zu überwinden.
Du hat da konkret Führung übernommen und bist mit gutem Beispiel vorangeschritten. Arbeitet ihr weiterhin mit Change-Multiplikatoren?
Ja, wir werden ein Team von Agile Coaches haben, die in unserer Organisation den Teams helfen, ihren agilen Weg zu finden. Wir haben auch ein sogenanntes Agile Lab, ein Trainingshaus rund um das Thema Agilität. Wir investieren also in Training und Coaching.
Wie sind die Leute momentan intern ausgebildet?
Wir haben die Position des Head Agile Coaches von außen besetzt. Dazu haben auch qualifizierte interne Mitarbeiter, die als Agile Coach unterwegs sind. Aber wir haben auch weitere Externe, da wir ganz klar den Input von außen brauchen, von erfahrenen Leuten.
Du denkst ja auch über Lean Organisation und Lean Startup nach. Wie greift das mit dem Agilitätsgedanke ineinander?
Die Verantwortlichen in anderen Unternehmen, mit denen wir über Agilität gesprochen haben, meinten alle: Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Es gibt keine Blaupause. Also bei der Organisation als ganzes musst du dir ein Menü zusammenstellen, das auf den Erfahrungen anderer beruht, aber letztlich unternehmensindividuell ist. Bei uns baut der Weg ganz klar auf dem „Agile Manifesto“ auf.
Der Lean-Gedanke ist aber auch vertreten. Allerdings eher bei Fragen und Feedback zu Innovationen und Customer Centrizity. Also im Marketing und im Produktmanagement ist Lean ein Einflussfaktor. Ich besuche sehr gerne die Lean Startup Konferenz, die ist schon sehr inspirierend. Da kommst Du zurück in die Firma und willst gleich fünf, sechs konkrete Dinge verändern.
Wie hat sich Deine Rolle als CEO verändert?
Wir haben in der Führungsetage zukünftig vier Typen von Teams, die mit bestimmten Arbeitsmethoden arbeiten. Dabei versuchen wir, das Thema Transparenz des Arbeitens umzusetzen und zu vorzuleben: Kanban Board, Standup-Meetings, in Sprints unterteilte Aufgaben, etc. Wir müssen ja mit gutem Beispiel vorangehen. Unser Kanban Board ist einem Konferenzraum, zu dem jeder Mitarbeiter Zugang hat und nachsehen kann, was die Geschäftsleitung gerade so für Themen bearbeitet.
Die Geschäftsführung arbeitet jetzt auch deutlich enger zusammen, als vorher. Ich habe auch mehr Themen auf dem Schreibtisch, weil wir interdisziplinärer arbeiten. Auf der anderen Seite ist das Allignment deutlich besser geworden. Die Resonanz aller drei Geschäftsführer ist sehr positiv.
Was sind bei dieser Umstellung die größten Gefahren?
Es gibt wie in jedem Wandel auch Gegner und von manchen haben wir uns auch bewusst getrennt. Natürlich verlierst das Unternehmen so auch Knowhow. Aber das gehört zum Management eines umfangreichen Kulturwandels eben dazu.
Ein weiterer Punkt, ist dass die Leute unterschiedliche Erwartungen an ihrem Freiraum haben. Und manche sind dann frustriert, wenn sie mitbekommen, dass ihr Freiraum nicht so groß ist, wie sie erwartet haben. Allgemein ist es sehr schwierig, die gesamte Belegschaft bei der Stange zu halten, da haben wir auch schon gute Treiber verloren, die mit bestimmten eingriffen der Geschäftsführung nicht zufrieden waren und dann gegangen sind.
Was waren für Dich die positiven Momente im Wandel?
Ganz klar das positive Feedback, das wir von der gesamten Organisation bekommen. Das ist sehr motivierend. Wir machen dazu auch Informationsveranstaltungen, die richtig beliebt sind. Wir hatten noch nie so viele Besucher gehabt, wie hier. Dafür könnten wir glatt Eintrittskarten verkaufen.
Ihr befindet Euch ja noch im Wandel. Welche drei Erkenntnisse hast Du bisher mitgenommen, die Du anderen Unternehmen mit auf den Weg geben würdest?
Erstens, Comittment von ganz oben. Wenn die Führungsetage schon nicht mitmacht, kann die Basis nicht erreicht werden. Zweitens, jedes Unternehmen muss seine eigene Geschichte schreiben. Natürlich sollte sich jeder so viel Input von außen holen, wie möglich. Aber jeder muss seinen eigenen agilen Weg finden. Und drittens, experimentieren. Dinge ausprobieren und auch zulassen, sie wieder fallen zu lassen. Trial-and-Error muss für eine agile Organisation gefördert werden.
Das ist ja ein Spannungsfeld, die wirtschaftliche Ertragskraft behalten und gelichzeitig experimentieren…
Wir transformieren uns ja auch aus ganz harten wirtschaftlichen Gründen. Wir machen das nicht, weil ich das intellektuell schick finde. Das tue ich zwar auch. Aber wir stellen uns nicht auf agil um, weil es gerade in Mode ist. Es ist eine Glaubensfrage darüber, ob Geschwindigkeit zählt oder nicht. Einen positiven und unerwarteten Nebeneffekt hat die Umstellung schon gezeigt: Die Kunden freuen sich, dass sie die Angebote viel schneller erhalten, als vorher.