Sanierung und Restrukturierung neu gedacht
Der Erfolgsfaktor Mensch in Unternehmenskrisen – Steht der Mensch im Mittelpunkt oder nur im Weg?
Wie gelingt es, die Effizienz im bestehenden Tagesgeschäft kontinuierlich zu steigern und gleichzeitig obsolete (Denk)Strukturen einzureißen, Experimentierfelder zu schaffen und neue Geschäftsmodelle zu gestalten?
Ausgangslage
Die zunehmende Dynamisierung des Marktes stellte einen führenden europäischen Dienstleister für Straßenbenutzungsgebühren vor neue Herausforderungen: »Wir müssen, unseren Kundenstamm erweitern sowie gleichzeitig flexibler und günstiger werden«. Also begaben sich Geschäftsführer, Führungsteams und Mitarbeiter auf eine transformatorische Reise. Der Geschäftsführung war klar: Das Unternehmen musste sich von seinen starren, bürokratischen und traditionellen Strukturen emanzipieren, um auch in Zukunft am Markt relevant zu sein. Denn die Zeiten, in denen das Unternehmen seinen Umsatz langfristig prognostizieren konnte, waren vorbei. Das sind gute Einsichten, um eine solch kräftezehrende Exkursion zu starten – und zeugt von unternehmerischer Weitsicht und Mut zur Veränderung vonseiten der Geschäftsführung.
Findungs- und Strategiephase
Ich wurde beauftragt, das Unternehmen bei der Einführung eines agilen Mindsets zu begleiten sowie Führungskräfte und Belegschaft mental und in der Praxis auf die Themen Effizienzsteigerung und Innovationsmanagement vorzubereiten. Der Fokus im Kerngeschäft und in den Schlüsselprozessen lag auf Effizienzsteigerung. Das Hauptaugenmerk der darüberhinausgehenden Innovationsaktivitäten war hingegen bewusst offen und nach außen hin, d.h. in Richtung neuer Idee und Geschäftsmodelle, gerichtet.
Im Rahmen eines sehr intensiven Findungs- und Strategie-Workshops mit den Führungskräften und der Geschäftsführung klärten wir folgende Fragen: Wo stehen wir? Wo wollen wir hin? Und warum gerade dorthin? Nach welchen Regeln möchten wir die Veränderung gestalten? Was sind unsere Leitplanken? Im nächsten Schritt sind wir in die Struktur des Vorhabens eingestiegen, haben Methoden, Ausblick auf Prozesse, Rollen und Regeln der Zusammenarbeit geklärt – und sind gemeinsam an die von der Geschäftsführung angeregten Aufgaben gegangen.
Organisationale Ambidextrie beschreibt die Nutzung vorhandener (Exploitation) und die gleichzeitige Erschließung neuer Potenziale (Exploration) in Unternehmen. Dieses Spannungsfeld manifestierte sich auch hier. Es ging also darum, auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen:
Aufbau
Beide Teile durchliefen (nach der Findungs- und Strategiephase) zwei Phasen:
- Trainings- und Lernphase: Die Führungskräfte und um die 20 eingeladene, motivierte Mitarbeiter lernten in Trainings agile Methoden kennen: Design Thinking, Business Canvas, Scrum und Lean Startup.
- Praxisphase: Anwendung und Umsetzung des Gelernten.
Effizienzsteigerung
Die Operationalisierung der Effizienzsteigerung verlief über vier – von der Geschäftsführung vorgeschlagene – Streams: Der Etablierung einer strategischen IT-Architektur, der Digitalisierung wesentlicher Kernprozesse, der Überarbeitung von Management-Systemen und der Optimierung interner Kommunikationsprozesse. Ein wöchentlicher Regeltermin sorgte für die notwendige Koordination und Transparenz der laufenden Aktivitäten. Es wurden diverse Meeting- und Abstimmungsformate ausprobiert und gemeinsam reflektiert – wichtig: Eine Struktur etablieren und »dranbleiben«.
Die Effizienzsteigerung der internen Prozesse war eine große Herausforderung für Führungskräfte und Geschäftsführung. Letztere überließ ihrer Führungsmannschaft im Sinne der agilen Selbstorganisation den Staffelstab. Die Umstellung des hierarchisch geprägte Mindsets und Nutzung der neuen Gestaltungsfreiräume fiel jedoch vielen der Führungskräfte schwer. Es zeigte sich, wie wichtig in diesem Zusammenhang gemeinsame Erfolge (»Quickwins«) sind. Bleiben sie aus, so wird auch das Vertrauen der Geschäftsführung in die Fähigkeiten der Führungskräfte in Mitleidenschaft gezogen und Schritt für Schritt hält Kontrolle und »Micromanagement« Einzug. Die eigene bzw. kollektive Komfortzone regelmäßig zu hinterfragen und auch zu verlassen, ist eine der größten Herausforderungen einer gelebten Transformation.
Da sich die Effizienzsteigerung direkt auf das operative Tagesgeschäft und die Unternehmensbilanz bezieht, war die Verbindlichkeit und der Druck hier wesentlich höher als bei den explorativen Innovationsteams. Für die exploitative Effizienzsteigerung hatte man nicht viel Zeit, die neuen agilen Methoden in »Trockenübungen« zu lernen, sondern musste schnell mit »Learning on the job« konzeptionelle Ideen und Prototypen skizzieren. Dieser Druck manifestiert sich auch im verstärkten Aufbrechen »alter« zwischenmenschlicher Befindlichkeiten und Egoismen. Die initiale »Euphorie« aus den Trainings oder Coachinggesprächen hielt nicht lange vor.
Um diese Herausforderung besser zu meistern, wurden alle Führungskräfte inkl. Geschäftsführung nochmals im Bereich Konfliktmanagement und -kommunikation intensiv geschult. Auch wenn das moderierte Ventilieren sicherlich zu einer temporären Entspannung beigetragen hat, so hätten hier eine systematische Nachbereitung und Follow-Up-Meetings für mehr Nachhaltigkeit gesorgt. Mit Blick auf die Zielerreichung konnten nach rund 6 Monaten die 25% Effizienzsteigerung auf Basis neuer bilanzieller Kennwerte realisiert werden. Die Themen »Entbürokratisierung« und »Digitalisierung« und wurden aus dem Projektmodus in die Linie übergeben und über das normale Controlling weiterverfolgt.
Open Innovation
Das primäre Ziel dieses »Grüne-Wiese-Ansatzes« war die Identifikation möglicher neuer Beschäftigungsfelder für Mitarbeiter aus vom Um-/Abbau gefährdeter Unternehmensbereiche. Das Thema Innovation und das agile Training nahmen die Teilnehmer sehr positiv an, denn sie spürten den neuen Drive: »Jetzt können wir mit neuen Methoden und auf Augenhöhe den Wandel des Unternehmens aktiv mitgestalten.« Die Beteiligten hatten nun Zeit, die agilen Methoden in ihren Teams (und ihrer Geschwindigkeit) zu trainieren. In Innovationsteams eingeteilt, präsentierten die Teilnehmer regelmäßig in Elevator-Pitch-Manier ihre Ideen vor Führungskräften, Betriebsrat und Mitarbeitern. Eine motivierende »Lern-Arena« für alle Beteiligten. Um eine systematische Bewertung und Unterstützung des gemeinsamen Auswahlprozesses sicherzustellen, wurde mittels des Tools »Mentimeter« ein interaktiver Fragebogen entwickelt, der ein Spektrum von eher harten Kenngrößen bis hin zu »soften« Eindrücken, abdeckte.
»Dr. Frank Behrend unterstützt uns seit nunmehr anderthalb Jahren bei unserer Transformation hin zu mehr Agilität, Kundenorientierung und Effizienz. Dass wir dabei große Fortschritte gemacht haben und dass das Thema trotz der großen Herausforderung eine unverändert hohe Akzeptanz in der Belegschaft genießt, haben wir nicht zuletzt seinem Engagement zu verdanken. Für mich ist Frank stets ein ehrlicher Sparringspartner, der – wenn notwendig – durchaus auch Klartext spricht und sich nicht scheut, „respektvoll und unerbittlich“ den Finger in die Wunde zu legen“.«
Geschäftsführer / Führender europäischer Dienstleister für Straßenbenutzungsgebühren
Auch wenn die Vorgehensweise als »Open Innovation« bezeichnet worden ist, so stellte sich zum Ende der Präsentationen heraus, dass keine der rund 12 ausgearbeiteten Geschäftsideen den Lackmustest der Geschäftsführung (und der Gesellschafter) bestehen konnte. Auch wenn Anforderungen bzw. No-Go-Areas im Vorfeld adressiert wurden, so war die harte Geschäftsrealität für einige Teammitglieder dann doch wieder recht ernüchternd. Die politische, strategische Dimension hat zuweilen ihren eigenen Takt, denen sich auch die kreativste Innovation »beugen« muss. Nach einer wichtigen Gesellschafterversammlung im November 2019 wurde dann doch aus den Geschäftsideen der Innovationsteams eine im Umfeld »E-Mobilität / Ladeinfrastruktur« selektiert und für die weitere Entwicklung in Form eines internen »Lean Startups« freigegeben. Maßgebliche Akteure waren dabei die von der Umstrukturierung betroffenen Mitarbeiter selbst.
Fazit: Zweigleisig auf Hochtouren
Organisationale Ambidextrie ist eine Herausforderung für jedes Unternehmen und jeden Beteiligten. Nach knapp sechs Monaten stellte sich heraus: Die Innovation lief prozessseitig gut und mit viel Motivation der Beteiligten, jedoch blieb am Ende bzgl. potenzieller Geschäftsmodelle das große Aha-Erlebnis aus. Im Bereich Effizienzsteigerung fiel es den altgedienten Führungskräften sichtlich schwerer, die traditionellen, methodischen Pfade und zwischenmenschliche Befindlichkeiten hinter sich zu lassen. Das Miteinander mit neuen Kollegen und der respektvolle „Tanz“ zwischen Disput und Dialog halfen hier, bestehende Haltungen zu verändern und gemeinsam Neues zu gestalten.
Und dennoch: Die erste Phase der transformatorischen Reise zeigt: Denkstrukturen und liebgewonnenen Verhaltensweise verändern sich nur schrittweise. Dabei geht die Geschäftsführung sehr reflektiert mit der Situation um und hinterfragt auch die eigene Haltung und Verhaltensweisen immer wieder. Ein Umdenken hat also auch hier stattgefunden.
Während auf der einen Seite noch die Ressourcen und Potentiale von heute abgeschöpft werden, ist der Blick auf der anderen Seite schon wieder nach vorn gerichtet, Richtung neuer Marktfelder und Möglichkeiten. Letztlich zeigte sich bei diesem Vorhaben mal wieder: Transformation und kulturelle Innovation passieren nicht über Nacht. Sie brauchen Zeit, die Beteiligten einen langen Atem sowie kundige Führung und Begleitung.