Die duale Organisation

 

Mehr Resilienz in schwankenden Märkten

Unternehmen stehen vor einer ganzen Reihe an Herausforderungen: Klimawandel, Ressourcenknappheit, Digitalisierung, geopolitische Krisen und Fachkräftemangel sorgen für unruhige oder gar fragile Märkte. Und als sei das nicht genug, kämpfen viele Organisationen noch mit dem Schleudertrauma der unvorhersehbaren Corona-Pandemie. Mindestens zwei Lehren hat unsere Wirtschaft aus dieser Krise mitgenommen: Erstens, Wandel kann doch schnell gehen. Und Zweitens, je größer die organisationale Resilienz in einem Unternehmen ist, desto besser kann es plötzliche oder allmählichen Veränderungen antizipieren und darauf reagieren. Heute müssen Unternehmen ständig nach Wettbewerbsvorteilen suchen, ohne das Tagesgeschäft dabei zu stören. Dabei stoßen klassische Hierarchiestrukturen an ihre Grenzen. Mit der dualen Organisation möchte ich einen Ansatz vorstellen, der diese Strukturen ergänzt, die Resilienz Ihres Unternehmens stärkt – und ihre Zukunftsfähigkeit verbessert.  

Was bedeutet organisationale Resilienz?  

In der ISO Norm ISO 22316:2017 ist der Begriff wie folgt definiert: „Organisationale Resilienz ist die Fähigkeit einer Organisation, sich an ein wandelndes Umfeld anzupassen, um ihre Ziele zu erreichen und zu überleben und zu wachsen. Resiliente Organisationen können Chancen und Risiken, die sich aus plötzlichen oder schleichenden Veränderungen ergeben, vorhersehen und darauf reagieren.“  Organisationale Resilienz bedeutet also Krisenfestigkeit, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Weitsicht. Das alles sind Attribute, die Unternehmen für die Herausforderungen unserer Zeit nur zugutekämen. Mit einer resilienten Organisationsarchitektur sind Unternehmen in der Lage, im neuen Kontext zu interagieren, zu lernen, sich anzupassen und wettbewerbsfähig zu bleiben – trotz der Instabilität und Unsicherheit des Umfelds. Ein Ansatz zu mehr Resilienz bietet die duale Organisation. 

Wo Hierarchie an ihre Grenzen stößt 

Hierarchien sind nützlich. Sie lassen uns die Arbeit in Abteilungen, Aufgaben und Verantwortlichkeitsbereiche sortieren. Hierarchie hilft uns, bekannte Abläufe mit Effizienz, Vorhersehbarkeit und Effektivität zu tun.  Innerhalb hierarchischer Strukturen ist auch ein gewisses Maß an Wandel möglich: Wir starten Initiativen, um neue Aufgaben zu übernehmen und die Leistung bei alten Aufgaben zu verbessern. Wir können z. B. neue Probleme erkennen, Daten in einem dynamischen Markt finden und analysieren, Business Cases für Veränderungen erstellen und Genehmigungen einholen. Wir können dies tun, während wir uns um das Tagesgeschäft der Organisation kümmern, weil diese Veränderungsmethodik leicht in die hierarchische Struktur und die grundlegenden Managementprozesse integriert werden kann.  Aber: Diese Methodik kann nicht mit dem rasanten Wandel der heutigen Zeit mithalten. Hierarchien und standardisierte Managementprozesse sind von Natur aus risikoscheu und widerstandsfähig gegenüber schnellen Veränderungen. Das Problem ist zum Teil politisch bedingt: Manager gehen nur ungern Risiken ein, wenn sie nicht die Erlaubnis ihrer Vorgesetzten haben. Zum Teil ist das Problem auch kulturell bedingt: Die Menschen halten an ihren Gewohnheiten fest und fürchten den Verlust von Macht und Ansehen – zwei wesentliche Elemente von Hierarchien. Anstatt also Veränderung in dem hierarchischen System zu forcieren, sollten Verantwortliche dieses entlasten – und ein zweites Betriebssystem im Unternehmen installieren, dass sich losgelöst von den hierarchischen Strukturen organisiert. 

Zwei Systeme – Eine Organisation 

“Wir können die täglichen Anforderungen an den Betrieb eines Unternehmens nicht ignorieren, was traditionelle Hierarchien und Managementprozesse immer noch sehr gut können. Was sie nicht gut können, ist, die wichtigsten Gefahren und Chancen früh genug zu erkennen, kreative strategische Initiativen flexibel genug zu formulieren und schnell genug umzusetzen.” – John P. Kotter: “Accelerate!” in: HBR November 2011. 

Die duale Organisation weist eine doppelte Fähigkeit auf, indem sie eine zweite operative Ebene in ihre Struktur integriert: Neben der hierarchisch-stabilen kommt eine dynamische Ebene hinzu. Das ermöglicht einerseits, bewährte Produkte, Prozesse und Strukturen effizienter zu gestalten und die kommerzielle Verwertung zu verbessern. Andererseits lässt die duale Organisation auch zu, innovative Geschäftsmodelle zu entwickeln und neue Wachstumsmärkte zu betreten. Oder anders ausgedrückt: Ein operatives Standbein im Heute – und eins im Morgen. Ein duales Unternehmen ist in der Lage, verschiedene Organisationsstrukturen und -kulturen je nach Zielsetzung zu kombinieren:

  • Stabile Strukturen, um eine Grundlage für nachhaltige, profitable und vorhersehbare Ergebnisse zu gewährleisten. Dazu gehören standardisierte Prozesse und Abläufe sowie Effizienzsteigerungsprogramme. Dadurch stabilisiert sich die Organisationsstruktur – und erhält Produktion, Wachstum, Qualität, Rentabilität, etc. aufrecht.
  • Dynamische Netzwerkstrukturen, um neue Realitäten zu erforschen, neue Perspektiven zu schaffen und neue Möglichkeiten zu nutzen. Dazu gehören Experimentierräume für neue Verhaltensweisen, Ansätze und Innovationen. Diese dynamische Strukturebene ermöglicht neue Business Models zu entwickeln, Märkte zu erschließen – sowie neue Herangehensweisen und Gewohnheiten zu etablieren.

In der dualen Organisation nutzen die Beteiligten vorhandene Ressourcen, um bestehende Potenziale weiter auszuschöpfen und parallel dazu neue Möglichkeiten auszuloten und zu erkunden. Dadurch sind die Unternehmen in der Lage, sich schnell verändernden Bedingungen anzupassen.  

 

Abbildung 1:  Die duale Organisation nach John Kotter    

Das zweite Betriebssystem: Netzwerkstruktur  

Das zweite Betriebssystem ist für Veränderungen, Verbesserungen und das Geschäft von morgen zuständig. Und es ist in einer Netzwerkstruktur organisiert. Das Netzwerk besteht aus hierarchie- und fachübergreifenden Initiativen von intrinsisch motivierten Freiwilligen. Die Freiwilligkeit und intrinsische Motivation sind wichtige Erfolgsfaktoren. Ebenso wie die Diversity. Je vielfältiger die Teams sind, desto höher der kreative Output, wie der McKinsey-Report „Delivering through Diverstiy“ darlegt. Eine der wichtigsten Führungsaufgaben in schwankenden Märkten ist, so ein vielfältiges Netzwerk aufzubauen, zu pflegen und mitzugestalten.  In dem Netzwerk erhalten die Beteiligten Freiräume, um in kleinen, losen miteinander verbundenen Teams ständig an der Veränderung und Weiterentwicklung zu arbeiten. Das Netzwerk wird von einem starken gemeinsamen Ziel und einem gemeinsamen Gefühl der Dringlichkeit geleitet. Diese emotionale Ausrichtung gibt den Freiwilligen Orientierung. Den Führungskräften des ersten, hierarchischen Betriebssystems kommt in diesem Zusammenspiel eine wichtige Rolle zu. Zusätzlich zum Tagesgeschäft müssen sie dafür sorgen, dass das Netzwerk als zweites Betriebssystem gedeiht und dass die Beiträge dazu als gleichwertig und wichtig angesehen werden. Das erfordert eine zielgerichtete und vertrauensvolle Führung – und nicht nur hartes Management. 

Fazit: zweigleisig Richtung Zukunft 

Unsere Wirtschaftswelt wird komplexer, Lebenszyklen von Unternehmen kürzer. Wer auch in Zukunft noch ein erfolgreiches Unternehmen führen möchte, sollte ein zweites Betriebssystem in die Strukturebene einbauen: Ein Netzwerk freiwilliger und intrinsisch motivierter Mitarbeiter. Das Netzwerk und die Hierarchie müssen untrennbar miteinander verbunden sein, wobei ein ständiger Informations- und Aktivitätsfluss zwischen ihnen besteht. Dadurch kann sich Betriebssystem 1 (hierarchische Führung) auf das operative Tagesgeschäft konzentrieren – währen Betriebssystem 2 (Netzwerk) die Trends und Veränderungen von morgen antizipiert und darauf reagiert. So entsteht eine duale Organisation und ein stabil-dynamisches sowie resilientes Unternehmen.