Wahrnehmung schlägt Wirklichkeit
Stabilität in agilen Organisationen
Über Veränderungsprozesse in Konzernen:
Im Sommer letzten Jahres habe ich mich mit Gerhard Stamm getroffen. Stamm ist Inhaber und Geschäftsführer der Stamm Consulting Group mit Sitz in Barcelona. Der Diplom-Ingenieur hat langjährige internationale Erfahrung in der Erweiterung, Reorganisation und Restrukturierung von Produktionsunternehmen. Unter der spanischen Sonne sprachen wir über die Probleme von Veränderungsprozessen in Konzernen aus Sicht eines externen Interim Managers.
Gerhard, was sind für Dich die größten Herausforderungen bei Transformationen in Konzernen?
Man muss allen Beteiligten deutlich machen können, wohin die Reise geht. Das klingt erst einmal banal, doch die größte Herausforderung ist, die Belegschaft von der Veränderung zu überzeugen und mitzunehmen. Oftmals verstehen die Leute gar nicht, was man möchte – und sehen die Notwendigkeit nicht. Aber wenn die Mannschaft Deine Vision nicht erkennt, Deinen Weg nicht sieht, hast Du keine Chance.
Gerade in Konzernen schwimmt jeder im eigenen Saft. Das liegt daran, dass Konzerne oftmals die Cash-Cows sind, die zwar langsam sind, aber funktionieren. Dieses Mindset macht sich dann in der Kultur breit und die Leute werden träge. Keiner hinterfragt mehr die Prozesse. Und wenn das kritische Hinterfragen abhanden kommt, ziehst Du als Verantwortlicher nur noch alle hinter Dir her.
Wie macht sich das bemerkbar?
Die Leute versuchen, mitzugehen. Aber sie hinterfragen Deinen Veränderungsanstoß nicht. Das geht eine Zeit lang gut. Du denkst Dir, »okay, es geht voran, die Mannschaft stößt den Prozess an«. Doch dann stattest Du der Abteilung mal einen Besuch ab und siehst: Wir sind keinen Meter vorangekommen. Die Leute haben gar nicht begriffen, worum es Dir geht. Jeder schiebt sich die Verantwortlichkeiten zu und Erwartungshaltungen gibt es keine.
Wessen Aufgabe ist es, die Verantwortlichkeiten zu klären?
Natürlich die der Führung. Das muss von oben kommen und von vornherein klargestellt werden. Wir machen das in Einzel- und Gruppengesprächen sowie in Präsentationen. Wir versuchen den Leuten zu erklären, worum es auch für sie geht. Wir wollen Interesse wecken, das Feuer entfachen für die Vision. Klare Kommunikation ist dabei unabdingbar. Und wenn die Belegschaft Deine Strategie nicht begreift, musst Du natürlich auch Dich selbst hinterfragen. Klare und offene Kommunikation bedeutet ja auch, die richtige Sprache zu wählen. So mancher Kick-Off scheitert schon an einer zu weltfremden Sprachwahl.
Unterscheidest Du zwischen Change und Transformation?
Für mich impliziert jede Form von Wechsel eine Verhaltensänderung. Dafür muss sich aber erst die Denkweise ändern. Und um das zu erreichen, muss man die Veränderungsbereitschaft der Leute aktivieren.
Wir wollen Interesse wecken, das Feuer entfachen für die Vision. Klare Kommunikation ist dabei unabdingbar. Und wenn die Belegschaft Deine Strategie nicht begreift, musst Du natürlich auch Dich selbst hinterfragen.
Gerhard Stamm, Inhaber und Geschäftsführer Stamm Consulting Group
Wie machst Du das?
Beispielsweise, indem man mit seiner Mannschaft andere Unternehmen besucht. Aus der eigenen Branche oder aus einer ganz anderen Branche, aber aus demselben Funktionsbereich. So etwas kann den Horizont ungemein erweitern und der Belegschaft wichtige Impulse für die eigene Arbeit geben.
Das Problem in vielen Konzernen ist nur: Die Bürokratie-Strukturen verhindern es. Mal spielt die Personalabteilung nicht mit, mal ist es die Rechtsabteilung oder einfach die Zeit, die es braucht, bis ein Antrag für einen externen Firmenbesuch freigegeben wird. Die Langsamkeit ist das allgemeine Problem großer Konzerne.
Ein anderer Weg, Mitarbeiter für die Sache zu aktivieren und zu motivieren, sind Seminare und Workshops.
Du hattest Führung gerade schon angerissen. Was bedeutet für Dich Leadership in der Transformation?
Meine Erfahrung zeigt: Vielen Führungskräften fehlt das Verständnis dazu, dass sie der Schlüssel zum Erfolg von Veränderungen sind. Oftmals fehlt auf zweiter und dritter Führungsebene das Pflichtbewusstsein der Leute. Keiner bringt sich ein. Jeder schiebt sich die Verantwortung zu. Das merke ich oftmals in den Meetings. Die Führungskräfte machen sich im Vorfeld nicht genug Gedanken zum Thema. Wenn ich so etwas beobachte, frage ich mich direkt, ob es im Team an Veränderungskompetenz fehlt – und wie man dem begegnen kann.
Sind die Führungskräfte also noch Gefangene ihrer alten Gedanken-Konstrukte?
Ja und nein. Ich glaube, dass viele Führungskräfte gerade in einer neuen Phase der Selbstfindung sind. In meinem letzten Projekt war es durchaus respektabel, was die Führungsteams da erreicht haben. Nur kommen aufgrund des Ausmaßes der Anforderungsänderungen viele nicht mehr mit. Rollen werden neu verteilt, Fachbereiche fallen weg, verschmelzen oder kommen neu hinzu.
Aufgrund solcher Veränderungen müssen Führungskräfte sich oftmals neu finden, um die Orientierung zu behalten. Sie müssen sich einen neuen visionären Unterbau zulegen, den sie dann an ihr Team weitergeben können. In Konzernen ist das dramatischer zu beobachten, weil sie einerseits langsam sind und auch weil es dort ganz einfach mehr Führungskräfte gibt, als in kleineren Unternehmen.
Wie ist Deine Herangehensweise an Veränderungsanstöße?
Man braucht immer eine klare Linie. Diese sollte aber niemals als gesetzt und statisch betrachtet werden. Vielmehr dient sie als ungefährer Wegweiser. Dabei muss sie immer wieder hinterfragt werden. Denn: Bei Change-Projekten und Transformationsprozessen, vor allem im Wandel und Übergang, tauchen irgendwann immer Widerstände auf, die man im Vorfeld nicht auf dem Radar hatte. Vieles kann man vorher ja gar nicht wissen.
Aber: Alles hat einen Grund. Und diesen muss man sich erschließen. Dafür ist sehr viel Sensibilität gefragt. Als Verantwortlicher muss man ehr nah an den Leuten sein und Vertrauen aufbauen. Nur so sind die Leute auch bereit, Probleme anzusprechen und in die Runde zu tragen. Alles muss diskutiert werden, sonst gelingt keine Veränderung. Den Beteiligten muss klar sein, dass die Veränderung nicht ohne Grund angestoßen wird. Man möchte ja etwas verbessern. Und was genau das ist, das muss man seiner Mannschaft klar machen. Mehr Rendite? Höhere Produktivität? Neues System? Gelingt das, tauen die Beteiligten auf, engagieren und begeistern sich sogar für die Sache.